Zur Aneignung bedingt geeignet. Soziale, mikropolitische und architektonische Bedingungen der Aneignung und Gestaltung des Wohnumfeldes durch die Bewohner in einem Wiener Gemeindebau
Oliver Schrader


Diese Arbeit stellt das Ergebnis einer mit qualitativen Methoden (Forschungsansatz Grounded Theory, problemzentrierte Interviews) durchgeführten Untersuchung in der Wohnhausanlage “Neues Schöpfwerk³ im Süden Wiens dar. Die forschungsleitende Fragestellung lautete: Wie verfügbar sind die Räume und die Infrastruktur im Nahbereich der Wohnungen für die BewohnerInnen? Welche Faktoren beeinflußen diese Nutzbarkeit? Welche Aushandlungsprozesse finden zwischen den an dieser Nutzung Beteiligten statt? Welche Konsequenzen haben diese Aushandlungsprozesse?

Auf der Ebene der baulichen Struktur zeigte die Analyse, daß vor allem Größenordnungen, Zonierungen und Grenzausbildungen zwischen Räumen unterschiedlichen Charakters, und die Anordnung von halböffentlichen Räumen (Durchgangs- oder Sackgassencharakter), aber auch Faktoren wie Belichtung und Bausubstanz (vor allem die durch die mangelhafte Bausubstanz bedingte Hellhörigkeit) die Aneignungsmöglichkeiten für die Bewohner beeinflußten. Kontextbedingungen, die die Nutzungen der Ressourcen im Nahbereich der Wohnungen beeinflußen, sind vor allem die hohe Fluktuation und das schlechte Prestige der Anlage, zwei Faktoren, die sich wechselseitig bestärken.
Auf der Ebene der sozialen Interaktion zeigten die Analysen, daß sich bei der Aneignung von gemeinsamem Raum und Infrastruktur zwei Grundprobleme stellen: Einmal die widersprüchlichen Interessen der BewohnerInnen untereinander, zum anderen, ob für die Bewohner befriedigende Lösungen mit den Interessen der Verwaltung vereinbar sind. Diesen Problemen stehen mehrere Entscheidungsmodelle gegenüber, von denen in diesem Kontext die wichtigsten das bürokratische Entscheidungsmodell und das formell-demokratische Modell waren. Das bürokratische Modell kennzeichnet sich dadurch, daß entscheidungsrelevante Kommunikation immer nur zwischen der Verwaltung und einzelnen Bewohnern stattfindet, und daß Anliegen von Bewohnern, die den Interessen der Verwaltung entsprechen, deutlich gegenüber anderen Anliegen bevorzugt werden. Demokratische Verfahren hingegen gehen von den Bewohnern als miteinander entscheidender Gruppe mit unterschiedlich weitreichenden Kompetenzen aus. In der Praxis zeigte sich, daß die demokratischen Vorgangsweisen auch unter den Bewohnern nicht genügend Akzeptanz fanden. Die Folge war, daß demokratisch getroffene Entscheidungen immer wieder durch bürokratische Entscheidungen revidiert wurden.
Die mangelnde Akzeptanz und Nachhaltigkeit demokratischer Entscheidungen ist durch ein Bündel von Faktoren bedingt: ein eingespieltes Beziehungsmuster, in dem die Bereitschaft der Verwaltung, von oben her einzugreifen, der Abneigung von Bewohnern entspricht, Interessen untereinander auszuhandeln. Diese Abneigung ist unter anderem durch den hohen Aufwand bedingt, mit dem demokratische Prozesse - aufgrund der (vielfach durch die räumliche und verwaltungstechnische Organisation erzeugten oder verstärkten) sehr widersprüchlichen Interessen der Bewohner - verbunden sind. Hinzu kommen Verfahrensmängel bei den demokratischen Verfahren, in denen die gegenläufigen Interessen weder während des Prozesses noch im Nachhinein diskutiert und berücksichtigt wurden, und deren Repräsentativität meist zweifelhaft war. Unzureichend definierte Entscheidungskompetenzen und unklare Verfahrensregeln für demokratische Entscheidungen waren zusätzlich kaum geeignet, den demokratsichen Prozessen Legitimation zu verschaffen. Nur in wenigen Fällen, wie z.B. beim Projekt Stiegenkassa, eines Versuches der Selbstverwaltung des Betriebskostenbudgets, waren gemeinsame Entscheidungen von BewohnerInnen von Dauer, da hier die Interessen der Bewohner in wesentlichen übereinstimmten. Hier allerdings verhinderte das zweite Grundproblem, nämlich die Vereinbarkeit solcher Entscheidungen (bzw. Entscheidungsmodelle) mit den Interessen der Verwaltung, eine erfolgreiche Umsetzung dieses Pilotprojekts.
Als Ergebnis dieser Untersuchung ergeben sich folgende wichtige Voraussetzungen für lokale Selbstverantwortung:
1. ein Grundstock an gemeinsamen Interessen unter den BewohnerInnen, an denen die Selbstverwaltung ansetzt,
2. definierte Entscheidungskompetenzen der Selbstverwaltungsgremien, die umfassend genug sind, um Spielräume und Kompromisse zuzulassen; damit zusammenhängend, klare Verfahrensregeln für demokratische Entscheidungen,
3. eine räumliche und verwaltungstechnische Organisation, die die jeweilige Anzahl der beteiligten Bewohner gleichzeitig überschaubar und klar definierbar macht.

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